Als Nella am nächsten Morgen zum Frühstück kam, war sie fast die erste. Ansonsten war nur Vidar schon da. >>Weißt du, wo Eka ist?<<, fragte sie ihn.
>>Ja<<, sagte Vidar.
>>Wo? Normalerweise ist sie immer die erste beim Frühstück!<<
>>Sie war auch schon hier. Dann ist Malwin gekommen und hat mit ihr ein Gespräch angefangen. Irgendwann sind die beiden zusammen weggegangen. Ich glaube, sie sind in Richtung HP gelaufen.<<
>>Aha! Malwin war am Werk! Eine typische malwinische Entführung.<<
>>Iracema ist übrigens immer noch im Krankenhaus. Das hat er Eka gesagt.<<
>>Bestimmt will er sich jetzt bei Eka einschleimen, weil er keine Chance auf Iracema mehr hat.<<
>>Er sah auch nicht sehr verknallt aus, als er mit Eka geredet hat.<<
>>Sieht ihm ähnlich. Gestern Abend hab ich übrigens... Ach, egal.<< Nella wurde rot.
>>Na, komm. Scheint wichtig zu sein. Was ist es denn?<<
>>Nein, nein. Nicht so wichtig... Alles gut.<<
>>Aber darf ich dir zumindest eine Frage stellen?<<
>>Ja.<<
>>Hat es was mit mir zu tun?<<
>>Äh... Nur mehr oder weniger.<<
>>Nella! Komm. Sag's.<<
>>Will aber nicht.<<
>>Keiner ist dabei! Wir sind allein hier! Siehst du das nicht?<<
>>Na gut. Es hat sehr viel mit dir zu tun.<<
>>Was hast du denn so spezielles gemacht? Hast du mit Christabel geredet? Bist du in mein Zimmer geschlichen und hast mein Handy geklaut? Hast du mich gemalt?<<
>>Natürlich nicht. Ich hab... Ich hab bloß an dich gedacht.<<
>>Toll. Negativ oder positiv?<<
Nella seufzte. >>Positiv.<<
>>Dann ist das ja nicht so geheim. Du hast ja einfach nur positiv über mich gedacht und das war's. Es gibt bestimmt viele, die abends positiv über mich denken oder an mich denken.<<
>>Nein, nein... Du verstehst mich falsch!<<
>>Ich verstehe dich überhaupt nicht falsch. Vielleicht denkt Amira-Parizad noch positiver über mich als du! Sie ist ein ziemlicher Fan von mir und ist immer dabei, wenn >die Band< am Abend auf der Bühne singt. Es kann sogar sein, dass sie in mich verliebt ist... oder war.<<
>>Diese Amira-Parizad! Ich höre auch ziemlich oft der >Band< zu!<<
>>Ja, wegen Eka, oder? Und die wegen Malwin.<<
>>In letzter Zeit mache ich gar nicht mehr so viel mit Eka! Und wegen Malwin würde ich der >Band< nie zuhören!<<
>>Aha! Hast du etwa noch positiver als die liebe Amira gedacht?<<
>>Pah, die >liebe Amira<! Amira-Parizad heißt sie! Wenn du mit ihr redest, kannst du sie gern Amira nennen, aber wenn du mit anderen redest, ist das nicht so nett!<<
>>Findest du? Na gut. Dann eben >die liebe Amira-Parizad<.<<
>>Will hoffen, dass das nicht wahr ist.<<
>>Was?! Erst willst du, dass ich sie die >liebe Amira-Parizad< nenne, und dann willst du das wieder nicht!<<
>>Nein, das meine ich doch gar nicht! Es geht darum, dass sie nicht lieb ist!<<
>>Jetzt lügst du aber! Sie ist zumindest lieber als Christabel, das steht fest!<<
>>Eigentlich finde ich es sogar gut, dass Christabel dich beleidigt und geprügelt hat! Nicht, weil ich dir schaden will, sondern weil du sie dadurch nicht mehr magst!<<
>>Schon gut, schon gut. Zurück zum Thema. Deine positiven Gedanken also. Ich bin ganz Ohr.<<
>>Ich hätte gedacht, dass du dir meine positiven Gedanken vorstellen kannst.<<
>>Nee, leider nicht. Ich weiß gar nicht, wie es in deinem Kopf so aussieht.<<
>>Ziemlich rot. Aber nicht vor Wut.<<
Vidar sprang vom Stuhl. >>Aha! Das ist es also! Jetzt hab ich's kapiert!<<
>>Genau, so ziemlich sehr positive Gedanken.<<
>>Sag, stimmt's, dass du in mich verknallt bist? Mal so ganz ehrlich!<<
>>Ich will nicht!<<
>>Ey, hier ist immer noch keiner.<<
>>Aber du weißt es doch eh!<<
>>Vielleicht tust du nur so und lügst die ganze Zeit. Ich hab keine Nase für sowas wie Stanisław. Deshalb sollst du es mir jetzt bitte sagen.<<
>>Na gut. Ja. Meinetwegen.<<
>>Noch mal. Du hattest die Arme über Kreuz.<<
Nella ließ die Arme sinken und sagte noch einmal: >>Ja.<<
>>Aha, du Geheimniskrämerin!<<
Nella setzte sich hin und schmierte sich ihr Brot mit Marmelade.
>>Jetzt tu nicht so, als wäre nichts gewesen, Nella. Willst du mir noch irgendwas sagen?<<
>>Nein.<<
>>Okay.<< Vidar schmierte sich sein Brot auch.
>>Bist du's denn?<<, fragte Nella plötzlich. >>Wahrscheinlich nicht, nhe?<<
>>Muss ich das denn so genau wissen? Irgendwie schon und irgendwie nicht.<<
>>Du kannst es dir ja noch mal überlegen.<< Dann schwiegen sie. Langsam kamen auch die anderen in den Raum, darunter Shun. Er sah niedergeschlagener aus als eh und je.
>>Hi Shun! Geht's dir nicht gut?<<, fragte Nella.
>>Doch, mir geht es super. Ich habe gar keine Probleme... Und werde auch nie wieder welche haben... Jedenfalls keine großen. Ja, mir geht's wunderbar, richtig ausgezeichnet.<< Dabei ließ er den Kopf tiefer hängen, als Nella ihn je dabei beobachtet hatte.
>>Diese Mitsuko macht dir Sorgen, nhe?<<
>>Sorgen nicht gerade. Nee, Sorgen nicht.<<
>>Iss erst mal was, das tut sicher gut.<<
>>Ja, ja. Mein körperlicher Zustand ist ja auch extrem gut. Normalerweise hab ich ein bisschen Schnupfen. Heute nicht, ausnahmsweise. Ich find's aber nicht toll. Blöd finde ich das natürlich auch nicht. Es ist mir eben egal.<<
>>Warum bist du so apathisch? Ich weiß, Mitsuko hat dir deine Zukunft auf irgendeine Weise zerstört, aber selbst wenn du mit ihr verheiratet würdest, könntest du ja immer noch Spaß haben und dich mit Freunden treffen!<<
>>In einem bestimmten Punkt hast du da Recht, Nella, aber sonst... Du weißt eben nicht, wie recht du da hast! Und wie unrecht.<<
>>Ich verstehe dich nicht mehr. Hilft dir vielleicht eine Erzählung?<<
>>Sie wird mir nicht helfen, so wenig, wie mir jetzt die Haruki-Murakami-Hörbücher noch helfen, aber du kannst es mir trotzdem erzählen, wenn du darauf bestehst.<<
>>Cool! Dann erzähle ich es dir! Ich bin nämlich fast mit Vidar zusammen, er muss mir nur noch sagen, ob er das auch will!<<
>>Ich halte das für absoluten Quatsch. Stanisław, Bela, jetzt dieser Vidar... Das ist alles eine Schnapsidee. Aber meinetwegen, lebe dein Leben, ich sollte mich da raushalten und meine Finger davon lassen.<<
>>Nein, Shun! Das ist keine Schnapsidee! Ich war nicht in Stanisław und Bela verliebt!<<
>>Ja, das wusste ich von Anfang an. Und du bist auch nicht in Vidar verliebt, so wenig, wie du in Bela warst. Ich gebe dir einen Euro, wenn du morgen immer noch in Vidar verliebt bist. Und mit dem sollst du ihn auf ein Eis einladen, falls du ihn tatsächlich von mir erhältst, was ich bezweifle. Die Wettervorhersage hat es mir vorhin erzählt, dass morgen sommerliches Wetter ist. Natürlich hat sie aus einer seltsamen modernen Box, die Radio heißt, erzählt.<<
>>Gut, Shun. Morgen um 10 lade ich Vidar auf ein Eis ein. Die Wette gilt. Ich werde dich anrufen und dir sagen, dass ich immer noch in Vidar verliebt bin. Dann wirst du zu der Eisdiele kommen und mir den Euro geben.<<
>>Abgemacht.<<
Am nächsten Tag kam es tatsächlich so. Nella hatte Shun um Punkt 10 angerufen und ihm gesagt, dass sie immer noch in Vidar verliebt war. Shun war pünktlich zur Eisdiele gekommen und hatte ihr (übrigens sehr lustlos) den Euro gegeben. >>Ich hätte dir übrigens auch 2 Euro gegeben, auch drei, eigentlich auch hundert. Du kannst mich gerne ruinieren, ausplündern. Ein bisschen Geld werde ich immer haben, das weiß ich schon jetzt. Es sei denn, dieses Geld werde ich verlieren, wenn ich es habe, aber das wird mir meine Zukunft nicht bieten können, nicht mal das.<<
>>Ich ruiniere dich trotzdem nicht, Shun. Dein Geld wirst du noch brauchen. Vielleicht kommt es ja doch anders.<<
>>Mein Portemonnaie steckt in meiner Hosentasche. Du kannst es mir wegnehmen. Ich könnte es dir auch selbst geben. Dann würden alle über mich reden und ich wäre das Gesprächsthema aller Heimer. Das würde ich aushalten. Ich kann jetzt alle Lasten tragen, selbst die, dass Carla mich zum Tode verurteilt oder dass ich in ein Verließ verbannt werde. Ich bin überflüssig.<<
>>Sag sowas nicht! Und behalte dein Portemonnaie!<<
>>Wie du wünschst.<< Shun seufzte und drehte ihr den Rücken zu.
Nella konnte sehen, dass aus dem Schatten einer großen Kastanie eine kleine, rundliche, dunkelhaarige Gestalt kam und einfach mitging.
Shun schaute noch einmal zurück und sein Gesicht bestand aus nichts anderem als Hoffnungslosigkeit.
Das muss Mitsuko sein!, dachte Nella. Mitsuko, das Wesen, das Shun seine Lebensfreude weggenommen hat. Was für ein schrecklicher Mensch muss sie sein! Sie hörte, wie Shun zu Mitsuko sagte: >>Du bist Mitsuko, watashi no shōrai no tsuma. Ich kann nichts dafür.<<
>>Ich kann auch nichts dafür und außerdem tut es mir sehr leid<<, hörte Nella Mitsuko noch sagen. Dann waren sie verschwunden. Aber Nella konnte noch immer spüren, wie unglücklich sie waren, denn sie waren nicht in die Welt verschwunden, sondern ins Unglück. Nella sah noch lange in die Richtung, in die Shun und Mitsuko verschwunden waren, obwohl nicht die kleinste Spur von ihnen noch zu sehen war. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie ihn doch geliebt hätte, denn dann hätte sie ihn vielleicht vor seinem Unglück bewahren können, doch jetzt war es zu spät.
Plötzlich fuhr sie zusammen. Vidar tickte sie an. >>He, Nella! Wir sind an der Reihe! Hat er dir den Euro gegeben? Jeder von uns kann ein Eis haben, denn eine Kugel Eis kostet 50 Cent!<<
>>So billig?<<
>>Ja, klar! Ich nehme Schoko.<<
>>Okay. Äh... Ich nehme Stracciatella<<, entschied Nella und bestellte. Bald darauf hatte sie eine Eiswaffel mit einer Kugel Stracciatella obendrauf in der Hand. Sie leckte am Eis. Bäh!, dachte sie. Kein Wunder, dass dieses Eis so billig war! Vidar schien es offenbar zu schmecken.
Nella unterdrückte ihren Ekel. >>Lecker!<<, presste sie hervor.
>>Find' ich auch<<, sagte Vidar genüsslich.
>>Hast du es dir jetzt eigentlich überlegt?<<, fragte sie.
>>Ja<<, sagte Vidar. >>Die Antwort lautet Ja.<<
>>Super. Ist dir eigentlich aufgefallen, wie deprimiert Shun ist?<<
>>Ja. Aber mir ist das nicht so neu. Ich fand ihn ja schon immer komisch.<<
>>Eigentlich ist er gar nicht so komisch. Er ist nur wegen Mitsuko komisch.<<
>>Die Wataschi-Frau finde ich auch komisch.<<
>>Genau. Dieses Wataschinono-Gerede ist mir bis heute ein Rätsel. Aber es hat auf jeden Fall etwas mit Mitsuko zu tun.<<
>>Ja. Es spricht ja auch nur Shun über Wataschinonoschoraizumano.<<
>>Vielleicht sind das die Namen von Mitsuko?<<
>>Stimmt! Das kann gut sein! Darauf bin ich noch gar nicht gekommen! Frag ihn doch mal.<<
>>Ich weiß nicht, ob Shun es mir sagen würde.<<
>>Dann nicht. Aber das Schokoeis ist lecker.<<
>>Cool. Meins schmeckt mir ehrlich gesagt nicht so.<<
>>Deine Schuld. Es gab auch Amarena, das findest du bestimmt leckerer. Nee. Kipp's weg.<<
>>Okay. Ich kipp's weg. Den geschenkten Euro war's ja wert. Trotzdem komisch. Normalerweise schmeckt mir Stracciatella immer.<<
>>Das Eis hat halt schlechte Qualität, deshalb ist es ja auch so spottbillig. Übrigens ist deine Theorie über Mitsukos Namen nicht ganz durchdacht, denn was ist für Shun denn so schlimm an japanischen Namen?<<
>>Stimmt.<<
>>Vielleicht hat er genug von den Namen, weil er aus Japan kommt und die japanischen Namen für ihn total eintönig sind. Oder er hat schlechte Erfahrungen mit Japan und wenn er ganz viel mit Mitsuko Schoraiwaschi machen muss, wird er daran erinnert und ist die ganze Zeit deprimiert.<<
>>Stimmt, aber irgendwie kommt mir die Theorie mit den Namen jetzt doch unwahrscheinlich vor.<<
>>Also ich finde sie eigentlich wahrscheinlich, denn das klingt schon ganz gut: Mitsuko Wataschi Nono Schorai Zumano.<<
>>Ich glaube, der Satz ging ein bisschen anders, aber egal.<<
>>Ja, ich glaube, bei Malwin war auch was anders. Nämlich sein Plan. Der ist schiefgegangen. Iracema ist jetzt nämlich nicht mehr in ihn, sondern in Bubi. Und vielleicht lebt sie auch nicht mehr so lange. Außerdem wollte er eigentlich gar nichts mit Eka machen und tut das nur, weil er nicht mehr mit Iracema ist, aber will, dass immer jemand in ihn ist.<<
>>Ja, ich glaube, Bubi, der mein Cousin ist, ist jetzt nicht mehr mit Hope zusammen.<<
>>Stimmt. Hat er mir auch schon gesagt. Er hat mit Hope Schluss gemacht. Die war ihm wohl zu crazy und zickig.<<
>>Ja, sie ist wirklich eine Crazyzicke.<<
>>Rhiannon und Bela machen übrigens gar nichts mehr zusammen.<<
>>Passt zu denen.<<
>>Mit Lebron macht Rhiannon übrigens auch nichts mehr. Der ist ihr anscheinend zu wechselhaft geworden. Hinter ihrem Rücken hatter er was mit Venus und hinter Venus' Rücken was mit Rhiannon... Ich kann verstehen, dass sie nichts mehr mit ihm macht. Lebron ist jetzt total mit Venus.<<
>>Ja, das stimmt, aber Rhiannon war auch sehr wechselhaft. Hinter seinem Rücken hatte sie andauernd was mit Bela.<<
>>Eigentlich ist sie überhaupt nicht wechselhaft, weil sie nämlich schlicht in gar keinen ist. Finde ich übrigens nicht besser.<<
>>Finde ich auch nicht besser.<<
>>Du bist übrigens nicht weniger wechselhaft...<<
>>Bin ich gar nicht! In Stanisław und Bela war ich nicht!<<
>>Gut. Ich hab grad Eka und Malwin gesehen.<<
>>Was haben sie gemacht?<<
>>Sie sind eben zusammen rumgelaufen.<<
>>Aha. Eka merkt natürlich nicht, dass Malwin nicht in sie verknallt ist.<<
>>Ich glaube, er ist zurzeit in niemanden. Es kann ja nicht sein, dass er immer noch Iracema mag. Die ist ja voll in Bubi und zu Malwins Charakter passt das nicht.<<
>>Mir ist es sehr recht, dass Malwin in Iracema ist, die ihn nicht mag. Es passiert sehr oft andersrum.<<
>>Ist Valeska eigentlich noch in Shun?<<
>>Ich glaub' schon.<<
>>Dann muss sie aber wirklich sehr verknallt sein. Shun kennt seine Zukunft anscheinend ja schon in- und auswenig, hat ganz viel mit der Wataschimitsuko zu tun und ist die ganze Zeit so depri.<<
>>Ich weiß es nicht. Es hat mir aber noch keiner erzählt, dass sie es nicht mehr ist.<<
>>Und ihre Freundin An ist in Malwin.<<
>>Ja. Er hat sich seine ganzen Verehrer alle nicht verdient.<<
>>Übrigens, Nella: Bubi hat, glaube ich, nicht wegen Hope an sich Schluss gemacht, sondern wegen Midori. Ich hab die beiden heute zusammen gesehen. Bubi ist aber auch richtig wechselhaft... Na ja, ich auch. Äh.<<
>>Mit wem warst du denn schon alles?<<
Vidar räusperte sich. >>Äh... Ja. Eigentlich nur Ahuva. Ganz kurz. Dann war ich in Christabel, die stur in Stanisław ist, ja... Dann kamst du und wir sind halt zusammen.<<
>>Meinst du, das wird so bleiben?<<
>>Eher nicht. Wir vertragen uns zwar gut, aber wir passen nicht so gut und so flaterhaft, wie wir sind, werden wir wahrscheinlich nicht immer zusammen sein. Ähh, sorry.<< Dann schwiegen sie eine Weile. Als er sein Eis aufgegessen hatte, schlug Nella vor, sich auf eine Bank zu setzen. Vidar stimmte zu.
>>Vidar<<, fragte Nella schließlich, >>warum denkst du nicht, dass wir zusammen bleiben werden?<<
>>Ich hab die Gründe doch schon gesagt. Wir sind sehr flatterhaft und passen nicht so gut. Verstehen tun wir uns natürlich schon gut.<<
Natürlich! Das stimmt ja auch. Aber warum muss er das sagen?, fragte sich Nella.
>>Da! Da sind Shun und Mitsuwaschi!<<, rief Vidar plötzlich.
>>Sollen wir sie beschatten oder fragen, was es mit dem Mysterium auf sich hat?<<
>>Sie beschatten natürlich! Du weißt doch, wie gefährlich Watakuto ist!<<
>>Stimmt! Sie ist bestimmt eine Mörderin und mit Carla verbündet!<<
Also versteckten sich Nella und Vidar hinter einem Busch und beschatteten Shun und Mitsuko.
>>Wenn ich könnte, wäre ich früher von meinen Eltern weggezogen. Dann wäre das nicht passiert<<, hörten sie Mitsuko sagen.
Shun antwortete darauf: >>Ich weiß. Aber du durftest ja nicht.<<
Mitsuko fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Da ihre Hand erst zu ihren Haaren gelangen musste und so ihr Gesicht verdeckte, konnte Nella nicht erkennen, ob sie weinte. Ihre Haare waren übrigens schwarz, kurz und glatt und seitlich gescheitelt. >>Warum trifft dieses Schicksal uns?<<, seufzte sie. Leiser fuhr sie fort: >>Um uns das Leben zu erleichtern, wäre ich sogar bereit, meins aufzugeben.<<
>>Warte damit noch. In Japan gibt es die höchste Selbstmordrate, aber du tust es trotzdem nicht. Außerdem sind wir Japaner in Deutschland.<< Shun richtete seinen Blick in das leere Nichts.
>>Ich weiß was! Wir werden Nonne und Mönch!<<
>>Aber... nein. Ich bleibe Shinto. Außerdem ist das keine gute Option. Da würde ich schon lieber... Das Leben ist so hart.<<
>>Stimmt. Ich werde auch keine Nonne.<<
>>Ich würde zu gerne alles rückgängig machen, einen absoluten Neuanfang starten, mein Leben noch mal leben... Aber aufpassen, dass ich nicht zu viel in der Öffentlichkeit herumlaufe, und allen Japanern so weit es geht aus dem Weg gehen.<<
>>Ich würde auch gerne einen Neuanfang machen. Dann würde ich alle meine Fehler korrigieren und... Das was dich betrifft.<<
>>Wir haben so ein Pech. Zu großes Pech. Ich kann dich nicht mal lieben. Das wäre auch nur zu schön.<<
>>Nur zu schön. Du sagst die Wahrheit.<<
Um die beiden weiterhin gut hören zu können, verfolgten Nella und Vidar sie hinter den Büschen. Sie konnten inzwischen sehen, dass Mitsuko tatsächlich weinte. Was für ein harter Schlag des Schicksals musste sie wohl getroffen haben? Die beiden hatten es wirklich nicht leicht.
>>Valeska hatte Pech. Aber sie weiß nicht, dass wir noch viel größeres Pech haben. Echt, es lohnt sich einfach nicht, weiter in sie verknallt zu sein. Ich weiß ja, was kommt. Und da... gebe ich lieber einfach alles auf<<, murmelte Shun.
>>Ich kann Valeska verstehen, aber sie tut mir nicht leid... Im Gegensatz zu uns. Ich will nicht im Selbstmitleid baden, es ist aber wahr.<< Mitsuko fuhr sich über die Augen.
>>Ehrlich, ich habe das Gefühl, dass uns jemand sieht... oder hört. Aber das ist mir egal, sollen sie uns doch sehen. Wir stehen eh schon lange nicht mehr gut da, und cool schon gar nicht.<<
>>Ich habe auch das Gefühl, beobachtet zu werden. Vielleicht sogar nicht nur von einem Menschen.<<
>>Ist doch egal, wie viele es sind. Wahrscheinlich ist es die ganze Stadt.<<
>>Ich kann mir eher vorstellen, dass es sich um... Nella handelt. Von der hast du mir ja erzählt. Die ist dumm, unverständig und neugierig... zu neugierig.<<
>>Du hast Recht, Mitsuko. Es kann gut sein, dass Nella hinter einem der Büsche oder Bäume ist. Aber das kümmert mich nicht mehr.<<
Vorsichtshalber ging Nella in die Hocke. Vidar folgte ihrem Beispiel. Shun und Mitsuko sahen aber nicht nach, ob sie wirklich da waren.
>>Lass uns aufhören, sie weiter zu beobachten. Bei denen kommt eh nichts mehr raus<<, flüsterte Nella. >>Lass uns jetzt lieber essen. Es ist eh Mittagszeit.<<
Nella und Vidar gingen zum Essen, doch Shun und Mitsuko führten ihr trauriges Gespräch weiter.
Mitsuko starrte auf ihre Füße. >>Ach Mitsuko, in was für einen Schlamassel hast du dich da hineinmanövriert?<<
>>Nicht du, deine Eltern<<, sagte Shun leise.
>>Ja. Unsere Eltern. Wenn die nicht gewesen wären... Dann hätten wir eine Zukunft.<<
>>Deine Eltern wissen ja noch nicht einmal, dass ich erst 15 Jahre alt bin! Und meine Eltern wissen auch längst nicht mehr, wie alt ich bin, und denken, ich wäre schon 19 oder sowas.<<
>>Unsere Eltern. Wenn sie anders denken würden, würden sie Enkel haben.<<
Plötzlich fragte Shun: >>Brauchst du Geld?<<
>>Nein. Brauchst du welches?<<, fragte Mitsuko zurück.
>>Überhaupt nicht. Ich will meins loswerden. Ich brauch's nicht mehr.<<
>>Es gehört ja auch uns beiden.<<
>>Ich werde mich nie daran gewöhnen. Warum, warum, warum, bist du nur Mitsuko, watashi no shōrai no tsuma? Womit haben wir das verdient?<<
>>Wir haben nichts getan. Es ist so gekommen und wir können es nicht mehr ändern.<<
>>Ich würde gerne alles ändern, alles, alles, die ganze Welt am liebsten. Aber ich weiß, dass es sich nicht lohnt. Und alleine kann ich nichts verändern, nicht einmal mit dir. Wir zwei können nichts unternehmen, die Veränderung müsste einfach vom Himmel fallen.<<
>>In drei Wörtern: Wir sind machtlos.<<
>>Nella und ihr Vidar wissen nicht, wie ernst die Lage ist. Ich gebe es nicht gerne zu, aber die beiden sind einfach - dumm!<<
>>Ja, Nella und ihr Vidar sind dumm. Und du bist mein Shun, aber ich will es nicht.<<
Shun und Mitsuko verschwanden leise weiterredend und völlig machtlos in den schwülen Sommernebel, der um einen kleinen Teich herumwaberte. Der Abend siegte gerade über den Tag und ein frischer Wind kühlte die flimmernde Luft ab. Ein Kirschblütenbaum verlor über ihnen seine weißen und puderrosa Blüten. Man hätte denken können, dass sie ein junges Paar in Japan wären, aber der Schein trog. Sie waren 2 unglückliche japanischstämmige Jugendliche in Deutschland, denen das Schicksal übel mitspielte und die sich ohne die Hilfe eines Wunder-Rettungsreifens nicht mehr aus dem Meer der Hoffnungslosigkeit retten konnten.
Der Nachmittag war für Nella und Vidar schnell vergangen und kurz darauf hatten sie auch schon das Abendessen hinter sich. Nach dem Abendessen schlenderten sie langsam in den Gemeinschaftsraum und schnappten sich ein paar Barhocker vor der Bühne.
>>Welche Band singt jetzt?<<, fragte Nella Vidar, der sich damit besser auskannte.
>>>White Shadows<, da ist Shun drin<<, sagte Vidar.
Die Band >White Shadows< betrat die Bühne. Sie bestand aus Bela, Bubi, Stephan und Shun. Bela und Bubi plusterten sich beim Betreten der Bühne groß auf und machten obercoole Posen. Stephan plusterte sich nicht auf, aber seine Posen waren nicht weniger obercool. Shun machte gar keine Posen, blickte nicht ins Publikum, sondern ins Leere, ließ die Arme und den Kopf hängen, bemühte sich nicht, seinen schlaffen, gekrümmten Rücken aufzurichten und schien nicht dazuzugehören.
Zuerst machte Bela ein langweiliges Solo und log über lächerliche Fake-Affären mit Rhiannon und Streite mit Lebron, dann stimmte Bubi mit dem Thema Liebe allgemein mit ein und spielte schließlich auch den Solisten. Er schwadronierte über seine langweiligen Beziehungen und Krisen mit Ling, Hope und Midori. Das meiste davon, was er sang, war nur halb wahr. Schließlich übernahm Stephan, der etwas besser, aber nicht weniger langweilig sang und bei dem es nur um Roxana ging. Dann war Shun dran. Sein Teil war der kürzeste, aber auch der glaubwürdigste. Seine Stimme war sehr leise. Daher machte das Mikrofon die Lautstärke. Trotzdem waren die anderen viel lauter gewesen. Sein Teil war allerdings halbwegs auf japanisch und der deutsche oder englische Teil mit gespieltem japanischem Akzent, den er aber nur vortäuschte, damit ihn keiner außer Mitsuko verstehen konnte. In seinem Lied ging es nämlich um Mitsuko. Die anderen hatten jeweils 10 Minuten für ihren Teil gebraucht, er lediglich 3. Sein Teil war der intensivste, trotz Mangel an Wiederholungen und langgezogenen Vokalen.
Als er die Bühne als Letzter mit hängendem Kopf und abwesendem, sogar ein bisschen verstörtem Blick verließ, kamen Nella und Vidar gemeinsam zu ihm und beglückwünschten ihn.
>>Du warst besser als die anderen, aber Vidar wird natürlich immer am Besten sein<<, sagte Nella und lächelte.
>>Ich hoffe, das wirst du immer so sehen<<, murmelte Shun. >>Ich werde bald keine Zeit dafür haben, dich in deiner Liebe zu beraten... ich werde viel Zeit haben, aber keine für dich. Für... Das willst du gar nicht wissen.<<
>>Für Mitsuko, das weiß ich. Aber vielleicht werdet ihr ja doch noch glücklich<<, sagte Nella.
>>Ja, für Mitsuko. Mitsuko, watashi no shōrai no tsuma. Auf Nimmerwiedersehen.<<
>>Bye... Oder, wenn du so willst: Auf Nimmerwiedersehen, Shun.<<
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