Da kommt Stanisław, dachte Nella. Ah, Gül ist bei ihm. Mist. Eigentlich mag ich Gül ja, aber jetzt hab ich keinen Grund mehr. Die ist ja auch voll in ihn verknallt. Kann ich ja auch verstehen, er ist ja der netteste Junge, aber... irgendwie ... Ich mag ihn halt auch. Nur er mag halt diese Gül viel mehr. Das ist so doof! Oder...? Sie tastete schnell ihre Frisur ab, setzte das netteste Lächeln auf, was sie konnte und wackelte leicht mit den Hüften.
Stanisław kam auf sie zu.
>>Hi Stanisław!<<, rief Nella.
Gül musterte sie argwöhnisch. >>Die gefällt mir gar nicht! Viel zu dick<<, raunte sie Stanisław zu. Der lachte nur und sagte: >>Jaja, ich weiß, Gül.<<
>>Außerdem sieht sie total angesagt aus und einen sehr netten Eindruck macht sie auch nicht. Die ist nicht so. Die will dir übrigens gefallen, das ist total klar.<< Gül verzog den Mund und blieb stehen. Eine Gruppe von Güls Freunden kam auf sie zu und ging mit ihr weiter. Es waren Midori, das japanische Superhirn mit der grün-goldenen Brille, Christabel, die heimlich auch ein Auge auf Stanisław geworfen hatte und immer peinlich pingelig bei seiner Rosinenallergie war, Charlotte, die eine enge Lederhose trug und einen Dutt mitten auf dem Kopf hatte, ihr Freund Arvo, der kamerascheu war und immer etwas zerstrubbelt aussah, Laurina, die eine große goldene Brille trug und allgemein immer ganz viel goldenen Schmuck hatte und ihr Freund Bert, der aus Südkorea kam und super gerne Kirschen aß.
Stanisław sah Gül und der Gruppe noch kurz hinterher, bevor er sich ganz zu Nella wandte. >>Du hast so gute Laune. Sind die neuen Freunde netter oder tust du nur so froh und hast dich mit welchen gestritten?<< Er wusste schon, wie man mit Mädchen umgeht und worüber sie gerne reden. Außerdem fing er Gespräche immer so an, indem er Fragen stellte, damit das Gegenüber auf jeden Fall etwas sagt. Natürlich war er trotzdem ein Junge und konnte nicht alles wissen.
>>Nee, meine Freunde sind nett. Alles tippitoppi<<, flunkerte Nella. Eigentlich hatte sie gerade keine richtigen Freunde und freute sich nur, weil Stanisław mit ihr redete.
>>Du klingst so, als ob du lügst<<, sagte Stanisław. >>Aber na gut. Offiziell glaube ich's dir...<<
Nella wurde rot unter ihrer Schminke. Dafür gab es 2 Gründe. Dass Stanisław sie beim Lügen ertappt hatte und dass sie das süß fand. Es war nämlich seine kleine Macke, dass er immer ehrlich mit dem Lügen war.
>>Und weißt du die News von den Carlas und so? Du weißt schon, wer in wen verknallt ist und sowas...<<, fragte Stanisław.
Nella schaute in die Richtung von Carla und bemerkte, dass sie sich gerade mit Shun herumtrieb. >>Ja, ich glaube, Carla ist mit Shun; der ist ja so ein Japaner... Find' ich ja nicht so toll...<<
Christabel, die gerade zufällig vorbeilief, sagte frech: >>Das weiß doch schon längst jeder, dass Carla mit Shun ist! Außerdem sollst du ihn nicht diskriminieren! Und ich weiß zum Beispiel, dass Inci was mit Bela hat! Darauf bist du bestimmt noch nicht gekommen, ha!<<
Nella streckte ihr die Zunge heraus. >>Besserwisserin!<<, keifte sie.
Als Christabel vorbeigegangen war, fuhr Stanisław fort: >>Meine Vermutung ist, dass Roxana und Stephan ein Paar sind. Kennst du Roxana? Das ist die Freundin von Carla. Ich finde die ehrlich gesagt nicht so sympathisch. Die sagt nie was und kreischt immer rum, wenn was eklig ist. Und sie ist voll schickimicki.<<
>>Ah, ja... Ich glaub', ich hab die beiden auch schon mal zusammen gesehen. Ich mag die Roxana auch nicht so gern, ich find die ganze Bande ja total zickig...<<, sagte Nella.
>>Du lügst. Ich glaube dir nicht, dass du die beiden schon mal zusammen gesehen hast<<, erklärte Stanisław und schmunzelte.
>>Dann halt nicht. Ich hab ja nur so das Gefühl<<, verteidigte sich Nella.
>>Außerdem gibt es noch zickigere als die Carla-Bande<<, sagte Stanisław unbeirrt. >>Majira, Ora-Magnolia und Thilo sind ja nicht zickig, sondern nur so komisch und schmuddelig und kriminell... Die echten Zicken sind Inci, die laut Christabel ja anscheinend mit Bela ist, Hope, die die große Schwester von dieser Rhiannon ist, das sind ja so angeberische Engländer, und so weiter... Da sind auch noch Ahuva und Ling...<<
>>Ja, genau, die Vollzicken-Bande. Die kann ich am schlechtesten ab. Ling kann kein Deutsch, so safe. Die kann ja nur so slangmäßig reden... Und Ahuva trinkt so gefühlt 2 Riesen-Colaflaschen pro Tag.<< Nella machte den Reißverschluss ihrer Fleecejacke zu.
Stanisław schaute auf seine Uhr. >>Bye. Muss weiter. Ich hab die arme Gül jetzt schon viel zu lange warten lassen. Sicher hat sie jetzt wieder irgendein Problem. Do widzenia, Nella...<< Dann ging er langsam zu Gül und den anderen.
Nella dachte: Boah. Einfach so mitten im Gespräch wegzugehen, nur wegen dieser Gül. Sie hat keine Probleme, sie ist ja nur ein Problem... Voll problematisch... Do widzenia, Nella, das hat Stanisław gesagt. Ich versteh nie. Der redet immer so polnisch. Ist aber eigentlich süß.
Am Abend gingen alle in den Gemeinschaftsraum des Internats. Es war aber kein richtiges Internat, denn tagsüber lernte man nicht, sondern hatte einfach frei. Die Klassen nannten sich Heime, aber es war nicht so bedeutend, in welcher Klasse man war. In der Nacht schlief man in einem Zimmer mit ein paar anderen oder machte heimlich noch seine Sachen. Lehrer gab es nicht.
Die Internatbewohner nannten sich Heimer. Abends sangen meistens im Gemeinschaftsraum ein paar sogenannte Bands, die die Heimer gegründet hatten. Nella zum Beispiel war in keiner Band, denn man musste auch nicht.
Stanisław war in der Band Lupus. Dort machten auch Gül, Klaus und Cecilie mit. Klaus und Cecilie waren nicht mit Gül und Stanisław befreundet, aber machten dort trotzdem mit. Klaus war rothaarig und nicht sehr besonders. Cecilie kam aus Südkorea und hatte einen Pony. Viel mehr wusste man nicht über die beiden.
Nella beobachtete Gül und Stanisław auf der Bühne, denn heute sang zuerst die Band Lupus und danach die Band Parihan. Dort machten nur Amira-Parizad und Carola-Lee mit. Carola-Lee sang immer nur Quatsch über ihre hypochondrische dreizehnjährige Schwester Tina und ihre andere zwölfjährige frühreife Schwester Smilla, die schon, anders als die etwas ältere Tina und die viel ältere Carola-Lee, einen Freund namens Thomas hatte, der wiederum einen langhaarigen Freund namens Ruttus hatte, der auch frühreif war und mit einer Maxima, die auch frühreif war, zusammen war. Carola-Lee besuchte Tina und Smilla sehr oft. Meistens trug sie G&H-Sneaker, ein langes Schlabber-T-Shirt mit Graffiti-Muster und eine weite dunkle Jeans. Ihre Haare waren blond und zottelig und zu einem Zopf hinten gebunden. Amira-Parizad war ihre beste Freundin und sang auch Quatsch, aber nicht so komischen. Sie sang eher über das, was sie erlebt hatte und über ihre Umgebung. Sie hatte schwarze Haare, war stark geschminkt und hatte große rosagoldene Ohrringe und Armreife.
Als Stanisław, Gül, Klaus und Cecilie fertig waren, gingen Carola-Lee und Amira-Parizad auf die Bühne. Aber Nella beachtete die beiden nicht und beobachtete Gül und Stanisław. Die beiden redeten sehr angeregt und lachten viel.
>>Mist!<<, entfuhr es Nella.
Stanisław warf ihr einen traurigen Blick zu, drehte sich dann aber wieder zu Gül und redete weiter.
Nella ließ die beiden nicht aus den Augen. Sie lief ihnen unauffällig hinterher, doch Stanisław bemerkte es. Er sagte auf polnisch etwas zu Gül. Gül reagierte sehr gereizt und wurde laut. Sie sprach auch polnisch. Offenbar war Polnisch ihre Geheimsprache. Am Ende ihres Satzes rief Gül etwas über >>alleN<<.
Stanisław nickte sorgenvoll.
Gül schaute nach hinten. Als sie Nella entdeckte, warf sie ihr einen vernichtenden Blick zu. Dann hastete sie schnell weiter und die beiden verschwanden in einen anderen Raum.
Plötzlich begriff Nella, was alleN bedeutete: Es war ihr Name rückwärts! Die beiden hatten über sie geredet. Eine kochende eifersüchtige Wut auf Gül stieg in ihr hoch. Nella ballte die Hände in ihren Taschen zu Fäusten. In ihnen war so viel Energie gespeichert, dass sie Gül damit hätte totschlagen können.
Nella bemerkte vor lauter Zorn nicht, wie sich der Raum um sie herum langsam leerte.
Schließlich war sie mit diesem japanischen Shun allein, der sie aber offenbar noch nicht wirklich wahrnahm. Er war in seine Gedanken versunken und stand mit dem Rücken zu ihr.
Plötzlich konnte Nella ihre Wut nicht mehr unterdrücken und es platzte laut aus ihr heraus: >>Ich hasse Gül so! Ich will sie töten! Sie ist ein Riesenproblem für mich!<<
Shun fuhr herum.
>>Und dich hasse ich auch, du komischer!<<, schrie sie unbedacht in ihrer Wut.
Shun drehte sich wieder weg, beachtete sie nicht weiter und setzte seine Gedanken fort.
Nella wollte schon aus dem Raum gehen, als sie plötzlich zusammenbrach und anfing, über ihren Liebeskummer zu weinen und zu schreien.
Shun ging in eine Ecke des Raumes, um ungestört weiterzuphilosophieren und nicht von ihr und ihrem Lärm belästigt zu werden. Er war sehr genervt von ihr. Offenbar hatte er kaum Mitleid und mochte sie nicht sehr. Warum sollte er auch, wo er sie doch nicht kannte?
Nella hatte schon so viel geweint, dass ihre Augen nur noch verschwommen sahen. >>Warum ist die Welt so blöd?! Keiner kann mich verstehen! Und ich hab Riesenprobleme!<<, schrie sie schrill. Sie hatte die Kontrolle über ihren Tonfall verloren.
>>Okay, jetzt reicht's aber!<<, sagte Shun, der es nicht mehr aushielt, fast sauer. Er wollte aus dem Raum gehen, aber Nella hielt ihn am Knöchel fest und sah völlig verzweifelt zu ihm hoch. Sie flehte: >>Geh nicht weg! Ich will nicht von aller Welt verlassen werden! Du ahnst nicht, was für ein großes Problem ich hab und denkst, dass ich einfach nur nervig sein will!<< Ihre Stimme ging in leises Wimmern über.
Shun seufzte. Widerwillig hockte er sich vor ihr hin. >>Na, was ist denn?<<, sagte er halbherzig.
>>Ich hab so Riesen Liebeskummer! Stanisław ist mit Gül zusammen, aber dabei hat er doch noch so viel mit mir geredet! Und ich kann nicht ohne ihn leben!<<, schluchzte Nella.
>>Du kannst ganz sicher ohne ihn leben, das kann jeder<<, sagte Shun immer noch kühl. Dann murmelte er: >>Aha, es geht um den superbeliebten Polen. Hätte ich mir ja denken können, den liebt auch echt jedes Mädchen.<<
Nella hatte ihn gehört, aber sie reagierte nicht.
Nach einer Weile sagte Shun: >>So. Jetzt sag erst mal, wer du bist. Ich bin Shun.<<
>>Warum soll ich das sagen? Aber na gut, Nella. Wenn du es unbedingt wissen willst.<<
>>Gut, Nella. Dann sage ich jetzt, dass ich jetzt weggehe, weil ich nämlich nicht weiß, was ich denn für dich machen soll.<< Shun wollte aufstehen.
>>Sorry, ich bin grad 'n bisschen aufgewühlt! Aber wenn du weggehst, fühl' ich mich total allein! Und dann wirst du auch nicht einschlafen können, weil ich nämlich weiterschreien würde. Hähä. Äh.<<
>>Toll, dann bleib' ich halt hier<<, seufzte Shun.
Nella setzte sich auf. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und sagte: >>Tut mir echt leid. Ich wollt' dich auch nicht aufhalten, aber ich hab grad einfach Hilfe gebraucht. Wollen wir aufhören, weiterzustreiten? Zumindest ich hör' jetzt auf. Ich kann das nicht mehr.<<
>>Gut, dass du Vernunft angenommen hast. Vernünftige Menschen kann ich viel besser leiden. Es gibt solche vernünftigen Leute und auch welche, die's eben nicht sind. Carla zum Beispiel<<, sagte Shun.
>>Ach, echt? Ich dachte, du wärst mit ihr zusammen.<<
>>Bin ich auch... Ich mag sie aber nicht so.<<
>>Oha! Geht das denn? Weil dann könnte ich nämlich auch mit Stanisław zusammen sein!<<
>>Ja, leider geht das. Carla ist übrigens auch nicht in mich und weiß, dass ich nicht in sie bin.<<
>>Warum seid ihr dann zusammen?<<
>>Weiß nicht. Carla will das so, damit sie cooler dasteht oder so. Ich versteh's nicht.<<
>>Ich würd's auch nicht verstehen.<<
>>Ist halt unverständlich.<<
>>Mach doch mit ihr Schluss.<<
>>Geht nicht. Dann holt sie ihre kriminellen Freunde und... Du weißt, wie's weitergeht? Dann geht's für mich halt nicht weiter.<<
>>Oha! Ich wusste nicht, dass Carla Mörder kennt!<<
>>Ja, auf den ersten Blick sieht sie nicht danach aus, aber...<<
>>Boah, krass.<<
>>Nöpp.<<
>>Oooh! Vielleicht kennt Stanisław auch Mörder!<<
>>Für mich sieht er eher harmlos aus.<<
>>Ja, stimmt, ich bin ja kein Angsthase.<<
>>Wenn du meinst...<<
>>Ey!<< Nella kicherte.
>>Ja sorry!<<
>>Vielleicht bin ich's ja auch... Glaub' ich aber nicht.<<
Plötzlich schaute Shun merkwürdig und drehte den Kopf.
>>Was hast du?<<, fragte Nella irritiert.
>>Egal, nicht wichtig<<, murmelte Shun verwirrt.
>>Sicher schon wichtig, aber egal<<, sagte Nella. Aber als Shun weiterschwieg, stieg ihre Spannung und es war ihr nicht mehr egal. >>Was hast du?<<, fragte sie erneut.
>>Ich sag's dir später mal irgendwann... Hat nix mit dir zu tun<<, sagte Shun leise.
>>Okay...<< Irgendwie war Nella enttäuscht, dass es nichts mit ihr zu tun hatte. Dann schwiegen sie.
Shun versank wieder in seinen Gedanken.
Nella nutzte die Zeit, um ihn genau unter die Lupe zu nehmen. Er hatte kurze schwarze Haare, schmale Augen mit braunen Pupillen (die im Gegensatz zu Stanisławs Augen viel kleiner und dunkler wirkten), war schätzungsweise 15 Jahre alt, trug ein rot-orange verlaufendes T-Shirt mit der schwarzen Aufschrift: Oooaarh! Aua! und eine grüne Cargohose mit Bündchen und hatte einen kleinen Mund und schmale Lippen. Sie dachte: Shun ist viel cooler als Stanisław, aber Stanisław ist viel süßer und ich mag ihn mehr. Aber mit Shun kann man besser befreundet sein. Na ja, mit Stanisław kann man eigentlich auch gut befreundet sein. Aber er ist ja jetzt mit dieser Gül zusammen... Nein, ich darf das einfach nicht denken! Er ist es einfach nicht und basta. Und ich werde jetzt nicht an ihn denken, denn wenn ich an ihn denke, denke ich auch an diese Gül. Aber das will und darf ich nicht. Deshalb denke ich jetzt lieber an Shun. Denken kann man ja wohl an ihn, man muss ja nicht gleich in ihn verliebt sein. Und das bin ich auch nicht. Ich bin doch in Stanisław. Das hab ich jetzt natürlich mal nicht gedacht, das ist ja so ein peinlicher Gedanke, der mich auch wieder an Gül denken lässt. Ich bin doch in Stanisław, oder? Sicher.
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